Grüne Forderungen als Konsequenzen aus dem Tönnies-Desaster

v.l.n.r. Sonja von Zons, Britta Haßelmann MdB, Helga Lange

Was hat uns das Desaster gezeigt? Welche Konsequenzen müssen daraus gezogen werden? Unsere Sicht auf die Dinge stellen wir hier vor.

10 Konsequenzen aus dem Tönnies-Desaster

GRÜNE Perspektiven und Forderungen

1. Industrielle Schlachthöfe benötigen permanent eine übergeordnete und unabhängige Kontrolle mit Durchgriffsrechten

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Die Kontrollen haben versagt. In dem wirren Durcheinander der Zuständigkeiten von Behörden der Landesebene, der Bezirksregierung und des Kreises und der Kommunen Gütersloh hat am Ende keine Ebene mehr konsequent Verantwortung für die Gesamtkontrolle des Infektionsschutzes bei Tönnies übernommen. Die getrennten Zuständigkeiten bei Arbeitsschutz, Hygieneregeln und Infektionsschutz haben offensichtlich dazu geführt, dass Tönnies nahezu selbst entscheiden konnte, welche Regeln in seinem Unternehmen gelten konnten.

Deshalb ist eine permanente übergeordnete und unabhängige Kontrolle für industrielle Schlachthöfe notwendig, die mit den nötigen Sofort-Durchgriffsrechten ausgestattet ist. Dafür sind auf Bundes- und Landesebene die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen und für die Kontrollen vor Ort muss genügend Personal bereitstehen.

2. Industrielle Schlachthöfe benötigen eine Größenbegrenzung

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Schlachthöfe dieser Größenordnung gefährden das Tierwohl, haben negative Auswirkungen auf die Umwelt und sorgen für Probleme bei den Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen für die Beschäftigten und ihre Familien und vor Ort. Auch sollten die landwirtschaftlichen Betriebe nicht von einem einzigen Schlachtbetrieb abhängig sein. Die weiten Wege der Zulieferungstransporte gefährden das Tierwohl zusätzlich. Die Massen von Tieren und die vielen Menschen auf engstem Raum bringen darüber hinaus erhebliche gesundheitliche Risiken für den Infektionsschutz der Beschäftigten und die Menschen vor Ort.

Deshalb ist die maximale Schlachtkapazität von industriellen Schlachthöfen zukünftig zu begrenzen. Der Kreis Gütersloh muss in einem ersten Schritt seine jüngste Genehmigung zur Erweiterung der Schlachtkapazität bei Tönnies zurücknehmen. Eine weitere Intensivierung der Massentierhaltung darf politisch nicht länger unterstützt werden.

3. Das Werkvertragssystem im Kerngeschäftsbereich von Unternehmen wird verboten

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Das Werkvertragssystem basiert auf der extremen Arbeitsausbeutung von Menschen aus anderen europäischen Ländern. Zu hohe Wochenarbeitszeiten, ungerechtfertigte Lohnkürzungen, nicht berücksichtigte Arbeitszeiten, Umgehung des Mindestlohns, gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen und menschenunwürdige Behandlung durch die Subunternehmen sind keine Ausnahmen. Vielmehr sind sie missbräuchliche Normalität bei der Beschäftigung in Werkverträgen.

Hinzu kommen die sichtbar gewordenen eklatanten Verstöße bei der Vermietung von Schlafplätzen und Wohnraum. Mietwucher, Überbelegung, hygienische Mängel und die Nutzung von Schrottimmobilien für Wohnzwecke sind fester Bestandteil dieses Subunternehmersystems.

Deshalb ist die komplette Auslagerung der industriellen Kernproduktion eines Unternehmens durch Werkverträge zu untersagen.

4. Die enge Verbindung von Arbeitsverträgen mit Mietverträgen wird entkoppelt

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Die Koppelung von Arbeits und Mietvertrag bringt Menschen in Abhängigkeitsverhältnisse von den Unternehmen und begünstigt missbräuchliche Arbeits- und Wohnbedingungen. Das bedeutet konkret, dass Menschen, die ihre Arbeit wechseln möchten, oft auch sofort ihre Wohnung verlieren. Das bringt insbesondere Armuts- und Arbeitsmigrant*innen in die absolute Abhängigkeit von ihren Unternehmen.

Deshalb liegt es in Verantwortung und im Aufgabenbereich der Kommunen, für die Bereitstellung von angemessenem Wohnraum zu sorgen. Es gehört zur allgemeinen Daseinsvorsorge der Kommunen, die Qualität, die Beschaffenheit und die angemessene Mietpreisgestaltung dieser Wohnungen sicherzustellen. Das kann beispielsweise über kommunale Wohnungsbaugesellschaften geschehen. Im Kreis Gütersloh sollen die Kommunen hierzu ein gemeinschaftliches Konzept vereinbaren.

5. Einführung wirksamer Wohnraumkontrollen im Kontext der Werkvertragsbeschäftigung

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Die bisherigen Wohnraumkontrollen in diesem Bereich sind nicht ausreichend und rechtlich bisher nicht ausreichend legitimiert. Erst im Zuge des Infektionsschutzgesetzes war es den Behörden möglich, neben dem gewerblich vermieteten Wohnraum auch privat vermieteten Wohnraum im Kontext der Werkvertragsbeschäftigung zum Schutz der Menschen zu kontrollieren. Diese umfänglichen, im Rahmen des Infektionsschutz durchgeführten, Kontrollen zeigten, dass sich neben den bereits bekannten Problemfeldern (Mietwucher, Überbelegung, hygienische Mängel, Nutzung von Schrottimmobilien für Wohnzwecke) auch viel mehr Menschen in diesen Wohnungen aufhielten, als den Behörden bisher bekannt war.

Deshalb braucht es zum Schutz der Betroffenen wirksame, regelmäßige Wohnraumkontrollen.

 

 

 

6. Die Arbeitsbedingungen in der Schlachtindustrie sind zu verbessern

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Die schlechten und schwierigen Arbeitsbedingungen in der Schlachtindustrie führen zwangsläufig zu einer enormen Fluktuation unter den Beschäftigten, die aber dennoch häufig mit ihren Familien nach Beendigung ihrer Tätigkeit im Kreis Gütersloh verbleiben. Dies führt zu einer kontinuierlichen Anwerbung von neuen „Billiglohnarbeitskräften“ aus Südosteuropa.

Wir brauchen faire Arbeitsverhältnisse in der Produktion der Schlachtindustrie. Dazu ist ein Verbot dieser Werkverträge im Kernbereich notwendig. Reguläre Arbeitsverträge, das Zahlen von tarifkonformen Löhnen, das Anwenden gesetzlicher Mitbestimmung sind neben der Bereitstellung von angemessenem Wohnraum weitere Voraussetzung für faire Arbeitsverhältnisse.

7. Werksarbeitnehmer*innen und deren Familien erhalten vielfältige Angebote zur Integration

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Im Kreis Gütersloh leben weit mehr als 10.000 Menschen aus Südosteuropa. Einer der Gründe für ihr Kommen ist häufig eine systematische Armuts- und Arbeitsmigration. Die davon betroffenen Menschen sind gesellschaftlich weitestgehend ausgegrenzt, viele verfügen über wenig deutsche Sprachkenntnisse, haben nur geringe gesellschaftliche Teilhabechancen und können ihre gesetzlichen Arbeitnehmer- und Mieterrechte in der Regel nicht durchsetzen.

Deshalb ist es notwendig, diesen Menschen systematisch Integrationsangebote zur Verfügung zu stellen. Angebote zur Erhöhung der gesellschaftlichen Teilhabe, zur Anbindung an Vereine und Verbände, zur niedrigschwelligen Sprachförderung, zur Begegnungs- und Selbsthilfe sind Beispiele für die Fülle von Integrationsmaßnahmen, die hier unbedingt notwendig sind.

8. Einführung von flächendeckenden Beratungsangeboten zur Integrationsbegleitung

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Die bisherigen speziellen Beratungsangebote für Armuts- und Arbeitsmigrant*innen im Kreis Gütersloh sind vom Umfang her nicht ausreichend, um die Menschen angemessen bei der Integration in das Gemeinwesen vor Ort zu unterstützen. Notwendig sind insbesondere Beratungsangebote im Bereich der Arbeitsrechtsberatung und der psychosozialen Beratung und Integrationsbegleitung.

Deshalb ist eine sofortige flächendeckende Einführung von Beratungsangeboten zur Integrationsbegleitung in allen Kommunen des Kreises dringend erforderlich. Der Kreis Gütersloh sollte die Implementierung solcher Beratungsangebote als fachlich koordinierende Kreisaufgabe verstehen und die Kommunen bei der Ausgestaltung dieser Angebote unterstützen.

 

 

9. Kinder von Armuts- und Arbeitsmigrant*innen sind in besonderer Weise auf zusätzliche Förderung und Integration in Kindertageseinrichtungen und Schulen angewiesen

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Die Kinder sind die Leidtragenden. Materielle Armut, lange Arbeitszeiten, schlechte Wohnbedingungen und mangelnde deutsche Sprachkenntnisse führen zu eklatanter Bildungsbenachteiligung der Kinder von Werkvertragsbeschäftigten. Besonders problematisch ist, dass Kinder von nicht gemeldeten Familien überhaupt keine Kindertageseinrichtung oder Schule besuchen können.

Deshalb sind für Kinder und Jugendliche zusätzliche pädagogische Angebote der Integrationsbegleitung und der schulischen Förderung bereitzustellen. Denn alle Kinder brauchen faire Chancen.

10. Einführung einer Kostenbeteiligung der Unternehmen

Das Tönnies-Desaster hat gezeigt:

Gewerbesteuer zahlen reicht nicht. Das bisherige Geschäftsmodell der hiesigen Schlachtindustrie, die Kernproduktion überwiegend mit dem Konstrukt der Werkvertragsbeschäftigung an Subunternehmen zu delegieren, führt zu ausbeuterischen Strukturen der Beschäftigten und belastender Lebens- und Arbeitssituation vor Ort. Perspektiven und die Integration dieser Menschen sind eine Gemeinschaftsaufgabe, die auch finanzielle kommunale Ressourcen und Anstrengung erforderlich macht.

Die Bewältigung der derzeitigen Krise und der sichtbar gewordenen sozialen Missstände und Menschenrechtsverletzungen ist eine entscheidende soziale Frage unserer Zeit.

Die Unternehmen müssen hier Verantwortung übernehmen für die Folgen ihrer ausbeuterischen Strukturen in der Fleischindustrie und sind an den bei Kommunen entstehenden Kosten zu beteiligen.

Kreis Gütersloh, den 21.08.2020

Unterzeichner*innen

Helga Lange & Birgit Niemann-Hollatz
GRÜNE Kreistagsfraktion

Sonja von Zons
GRÜNE Bürgermeisterkandidatin Rheda-Wiedenbrück

Dr. Kirsten Witte
GRÜNE Bürgermeisterkandidatin Halle (Westf.)

Gitte Trostmann
GRÜNE Bürgermeisterkandidatin Gütersloh

Thorsten Schmolke
GRÜNER Bürgermeisterkandidat Werther

Detlef Gohr
GRÜNER Bürgermeisterkandidat Steinhagen

 Philipp Ashton
GRÜNER Bürgermeisterkandidat SHS

 Juan Carlos Palmier
GRÜNER Bürgermeisterkandidat Harsewinkel

 GRÜNE Ratsfraktionen im Kreis Gütersloh

Britta Haßelmann MdB

Wibke Brems MdL